Philippe Jaccottet

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Petrarca Preis, 1988

wurde 1925 geboren und ist ein französisch schreibender Lyriker, Essayist und Übersetzer.

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Peter Handke

Langsam im Schatten: der Dichter Philippe Jaccottet

Die Wahl des Petrarca-Preisträgers für das Jahr 1988 hatte, neben den üblichen Varianten, eine Besonderheit: Keiner von uns vieren. die wir die sogenannte Jury bilden, weder Peter Hamm noch Alfred Kolleritsch, weder Michael Krüger noch ich, kannte den Dichter Philippe Jaccottet, auf den, nach der gemeinsamen Lektüre, bald die Wahl gefallen war, in Person. Ich zum Beispiel wußte nur aus einer kleinen Bemerkung eines französischen Freunds, Jaccottet lebe, nebenher im Brotberuf eines Übersetzers – warum hat übrigens dieses schöne Wort »Brotberuf« solch einen unschönen Beiklang? -, in dem Dorf eines südöstlichen Departements, vollkommen zurückgezogen, hell entschlossen (wieder solch ein Ausdruck, diesmal aber mit einem guten Beiklang, und passend im übrigen für das ganze Werk Philippe Jaccottets), also »hell entschlossen«, sich von keiner, gleich welcher, Veranstaltung der Literaturwelt von seinem Ort, seinem Garten, seinem Haus und seinem Fenster abbringen zu lassen. Nun bin ich gleich nach der Wahl Jaccottets, bevor dieser noch gefragt werden konnte, ob er den Petrarca-Preis annehme, vom Herrn Vorsitzenden unserer Viererbande, als die ich uns gerne sähe, freilich nur, was diesen ohnedies befristeten Preis betrifft, zum Laudator bestimmt worden. Im ersten Schrecken war ich einverstanden, aber mir war bald mulmig zumute, aus dem angeführten Grund, und auch, weil vor Jahren, als ich, ausgeschickt nach L'Isle-sur-la-Sorgue in der gleichen Angelegenheit zu René Char, endlich, ohnedies mutlos und wohl in mir gar nicht entsprechendem Gesandten-Tonfall, unser Ansinnen vorbrachte, der argwöhnisch-gütige Riesendichter mir gleich ins Wort fiel und nur kurz meinte, wie schade es sei, daß ich ihm inmitten eines so freundschaftlichen Gesprächs von nichts als Dingen, Bildern und Wörtern auf einmal mit diesem Preiszeug käme. Noch heute trage ich an jener jähen Grämlichkeit und Enttäuschtheit im Gesicht René Chars, nach der ich mich, wenn auch nur für Momente, als unerwünschter Besuch fühlen mußte. So war es diesmal eine Erleichterung, als wir über einen Vermittler erfuhren, daß Philippe Jaccottet zumindest nichts gegen unseren Preis hatte; allerdings, so gleich wieder die Bedenken, kam sein Einverständnis nicht eher aus einer Art Amor fati oder aus der Höflichkeit des Weisen, also aus der besonderen Person? Hier wurde nun zum erstenmal die Frage nach dem uns unbekannten Menschen Philippe Jaccottet gestellt, und zwar, wie man so sagt, gezielt, an einen Mann, der an dem Tag der Wahl später noch dazukam und, wie sich herausstellte, mit dem Dichter manchmal Umgang hatte. Wir hätten vielleicht nicht fragen sollen; denn die Antwort, im übrigen bestimmt von scheuer Begeisterung für den, um den es ging, widersprach oder, genauer gesagt, verengte das Bild, das, jedenfalls in mir, bei der Lektüre der Poeme und Prosastücke Jaccottets ohne meinen Willen entstanden war. Das vordringlichste der Charakteristika, welche der Gefragte gebrauchte, war nämlich: »Ein Zen-Mönch.« Unsere schematischen Zen-Mönch-Vorstellungen und die wohl nicht viel wahrhaftigeren Impressionen einmal beiseite: Es ist mir noch nie recht gelungen, einen Künstler sozusagen hauptpersönlich als einen buddhistischen Mönch zu sehen (als einen christlichen freilich noch weniger, weder Hieronymus Bosch noch Hugo van der Goes – nicht einmal den Fra Angelico).

Zwar gehörte jener japanische Cineast, dem es vielleicht als dem einzigen gelungen ist, Stille im Film nicht als Ankündigung einer Bedrohung oder als Nachhall einer Katastrophe, sondern als die größere oder große Gegenwart erscheinen zu lassen, Yasuhiru Ozu, extern einer Klosterbruderschaft an, aber all seine Familienszenen (die auch darum so universell und gegenwärtig wirken, weil sie frei oder leer von jeglicher Szene sind) werden in der Regel geerdet durch das immerwiederkehrende Trinken des Saké, und ebenso ist es bei dem japanischen Erzählmeister Yasushi Inoue, auch er angeblich Angehöriger von etwas wie einem dritten Zen-Orden und gewiß einer der ganz seltenen, dem der Leser die Erleuchtungen nachleben und nachdenken kann, indem sie, statt leitfadenhaft, bildhaft an den Sinnendingen, dem Mond, den Azaleen, dem bei dem eigenen Feuerwerk sich keinmal zum Himmel hebenden Kopf eines Feuerwerkers, erfahren und mit keiner anderen Absicht, als davon gewissenhaft zu berichten, niedergeschrieben sind: Bei allem Filigranen, allem Abstandhalten und -wahren, aller Kunst des Verschweigens sind bis heute kaum so welt- und körperverstrickte Mann-Frau-Geschichten erzählt worden wie etwa im »Stierkampf«, in der »Eiswand« oder in den »Höhlen von Dun Huang« dieses Zen-Buddhisten Yasushi Inoue, der als Hauptperson eben doch Schriftsteller ist...

Doch nun habe ich, im Versuch einer Annäherung an die Person Philippe Jaccottet, gerade auf meinem Umweg über die beiden japanischen Künstler, ein wenig von der Leichtigkeit des Anfangs verloren. Vielleicht eine kleine Glosse zur Brücke dahin zurück und auch zurück zu uns nach Europa: Vor Jahren habe ich ein paar Kriminalromane eines niederländischen Schriftstellers gelesen. Und in dessen Biographie war angegeben, er habe als junger Mann eine Zeitlang als eine Art Novize in einem japanischen Kloster gelebt (schon wieder bin ich da!); seine Weltsicht und seine Schreibweise seien von jenen fernöstlichen Erfahrungen beeinflußt. Der Leser schlug die Bücher, auch das zweite und dritte, mit Neugier auf und war am Ende ein jedes Mal enttäuscht, beim letzten dann gar ergrimmt. Das zuletzt Empörende an all den Geschichten war weniger, daß sie keine wie auch immer beschaffene »Weltsicht« offenbarten, sondern eher, daß sie eine Sicht oder auch nur den Blick auf gleich welche Welt verstellten, verstümmelten, ablenkten und vernichteten, weil die Dialogsätze pausenlos Witze, die erzählenden ein Springen von Bild zu Bild und die reflektierenden jeweils lükkenlos Glied einer Begründung zu sein hatten. Die Folge eben: im Witzzwang Verlust der menschlichen Körperlichkeit; im Bildzwang Wegblenden der Einzel-Dinge und Verlust jeder Räumlichkeit; im Beweiszwang und Psychologisieren der übliche Kleinkrieg gegen das stille offene Denken der Phantasie. Vielleicht bin ich mit solch einem Satz auch schon nah an diesen Zwängen und helfe mir jetzt heraus mit einem Satz von Philippe Jaccottet: »Vielleicht ist Stille nur ein anderer Name für Raum.«

Ja, und nun kann ich endlich ganz zu dem kommen, um den es hier geht, obwohl das Wesentliche an ihm schon bei der Betrachtung der beiden japanischen Meister mitspielte, und auf andere Weise, als das Gegenbild, in der Kritik an der Vorgehensweise des holländischen Schriftstellers. Was Jaccottet in den etwa vierzig Jahren seiner dichterischen Arbeit geschaffen hat, ist nämlich gerade ein Gewährenlassen, Zur-Geltung-Bringen und In-Schwebe-Halten: der Räume, der Dinge, der Stille und vor allem des uns umgebenden Lichts (in Abwandlung einer im »Spaziergang unter den Bäumen« als Beispiel höchster, das heißt bilderloser Kunst zitierten Gedichtzeile Hölderlins: »Und mit Gerüchen umgaben Bäum' uns«). Wie aber schafft Philippe Jaccottet solch ein Gerechtwerden, solche-in seiner angemessen lakonischen Sprache - justesse, angesichts seiner Welt, die bei ihm einmal »die Welt der wunderbaren Ungewißheit« heißt? Was ist seine Weise? Als Hauptantrieb seiner poetischen Aktivität erscheint mir ein energisches Sich-nicht-Einmischen in den Gegenstand, ein entschlossenes In-Ruhe-Lassen (auch um die eigene »ewige Unruhe« zu stillen). Der Ausgangsort eines jeden seiner Texte ist das: »Höre! Schaue! Schweige!« Hör das Schrillen der Schwalben über den Häusern. Heb den Kopf zu ihrem Kurven im Himmel. Entsprich mit deinen Sätzen und Strophen dem Schweigen, das beides in dir erzeugt und das doch gerade der Anfang zu deinem Schreiben ist. Der Dichter Jaccottet hat, wie er es im »Spaziergang unter den Bäumen« einmal ausdrückt, als »Entzifferer« angefangen, ist aber im Lauf der Jahre oder Jahrzehnte davon abgegangen und zum bloßen »Diener des Sichtbaren« geworden: »Das bloße Nennen der sichtbaren Dinge, in einem Schwebezustand zwischen Anspannung und Abgelöstheit, (welches) von meinem Geist zur Welt hin ein unsichtbares Netz knüpfte..., dank dessen die Welt, indem sie aufhörte, mir feindlich zu sein oder auch nur sich zu entziehen, mir Beistand, Aufenthalt und Schatz wurde.« Die reinen Namen also? Nein, »das Gebet des Namens«, wie Jaccottet dazu einen indischen Dichter des siebzehnten Jahrhunderts zum Zeugen beruft.

Hier ist jetzt ein letzter kleiner Umweg angebracht, in dem Sinn jenes Satzes wieder aus dem »Spaziergang«, der lichtesten und durchlässigsten aller Poetiken dieses Jahrhunderts: »Ich mußte weitermachen, durfte keinen Umweg unbegangen lassen. Es ist, auch in den ernsten Zeitungen, üblich geworden, von – gleichwie – öffentlichen Personen so etwas wie Psychogramme umlaufen zu lassen. Meister des journalistischen Metiers fingern da ihrer Leserschaft mit geübten Griffen aus der Alltagspsychologie die Charakterzüge eines gerade aktuellen Menschen auf. Das hat sich längst eingebürgert bei Politikern und Sportlern, ist in der jüngsten Zeit aber auch eine Methode bei Kulturjournalisten geworden, gegenüber- sagen wir einmal für diese vielfältigen Leute, für die ich keinen Namen habe – »unsereinem«. Wie fragwürdig dergleichen auch ist, so kann es doch hin und wieder recht sein, wenn die Person einmal die Hauptsache ist, sei es in ihrer Art des Auftritts oder ihrem Abtreten, dem Tod. Unrecht jedoch (ein sehr mildes Wort) wird daraus, sowie ein derartiges Psychogrammieren losgeht auf die einzelne Arbeit. Dieser - wie es mir jedenfalls vorkommt-neumoderne Feuilletonistenzug ersetzt die Kritik an der Sache vollständig durch das Psychologisieren, welches ausschließlich ein Psychiatrisieren ist, exekutiert von selbsternannten Gerichtsgutachtern, und ausschließlich in der Absicht, die jeweilige Person als Schuldigen, als Delinquenten erscheinen zu lassen und seine Sache, statt als das aus ihm Hervorgekehrte, von ihm Erarbeitete, als bloßes Beweisstück, als ein nur das Gericht angehendes corpus delicti. »XY hat dieses Ding nur deswegen gedreht, weil er...« (folgt das psychiatrische Gutachten). Was da eingerissen ist, betrifft mich, wann immer ich darauf stoße, auch wenn es um andere geht, ungleich schmerzhafter als zum Beispiel jene eselige Brücke »Leben – Werk« in dem beliebten Mozartfilm, wenn das Gezeter der dummen Künstler-Schwiegermutter übergeht in die schrillen Töne der Königin der Nacht: Hier geschieht, noch dazu unter dem Vorwand der Aufklärung, fortgesetzt Tabuverletzung, und dieses verletzte Tabu, auch wenn ich selber nicht betroffen bin, verwundet etwas tief in mir und revoltiert mich, bis zur Gewalttätigkeit, mag ich mir auch immer wieder vorsagen, daß es statt dessen Teil der Arbeit von unsereinem wäre, solch ein Tabu förmlich wiedereinzusetzen und, ja, frisch zu weihen.

So habe ich jedenfalls, über diesen Umweg, versucht, mir ein Psychogramm vorzuspielen, wie es solch ein neuer Meister der Seelenkunde allein aufgrund der »einschlägigen« Lektüre gegen die ihn (und uns) unbekannte Person des Philippe Jaccottet ausstellen könnte. Nein, da ist nichts zu versuchen, dieses Spiel bleibt für mich ein verbotenes; und außerdem würde es durch die Arbeit Jaccottets, Zeile für Zeile, schon im Ansatz entkräftet: das Zaghafte oder Zagende, das so jemand da herauslesen könnte, hat doch – und das macht das Spiel gleich unmöglich - jedesmal seine Form und erscheint dergestalt gewendet und aufgehoben in etwas Allgemeines, Gesetzmäßiges – das vermeintliche Zagen als jenes sanft-gebieterische Zögern und Sichzeitnehmen des Poeten, als eine durch die Schrift erst geschaffene Haltung des Abstands, der Scheu und der Geduld – wenn das »Zagheit« sein soll, so habe ich mir beim Lesen der Gedichte einmal gedacht, dann ist es eine wunderbare. »Reden ist also schwer, wenn es Suchen ist... was suchen?« heißt es in einem, und in einem anderen: »Suchen wir eher außer der Reichweite...«

Und ebenso unmöglich wäre es, aus den Büchern Jaccottets etwa das Konterfei eines schwärmerischen Individuums herauszuzerren; die Satzteile, welche zu solch einem Verdacht den Anlaß gäben, könnten allein grammatikalisch gar nicht so dastehen ohne den ergänzenden, widersprechenden, vielleicht selbstkritischen, jedenfalls ernüchternden anderen Satzteil. Und wieder wird durch die poetische Sprache das Als-ob-Schwärmerische, das Als-ob-Persönliche gelichtet und gelüftet, zum Beispiel oder zum Gleichnis: in diesem Fall zu Beispielen für die uns vielleicht allen gemeinen Momente des Aufschwungs, durchkreuzt schon im Erleben von der »ewigen Enttäuschung« (wie das Patricia Highsmith genannt hat). »Ich empfand das Glück einer Neugeburt, aber ich war nicht weise genug, sie geheimzuhalten« – so steht es im »Spaziergang unter den Bäumen«. 2017)

Und schließlich: »Entlarvt« oder »verrät« – beliebte Kulturseitenwörter - sich dieser Jaccottet in seinen Texten nicht als ein völlig passives Individuum, welches Tag und Nacht, sommers und winters, nichts tut, als aus seinem Fenster zu schauen, welches einmal gar zu »unserem Schatz« stilisiert wird, und nichts tut, als auf die Vögel, den Wind und die Bäume zu hören? Gerade daß er, laut eigenen Angaben, einmal kurz vor die Tür tritt, um Holz zu hacken! Und was heißt »La promenade sous les arbres«? Als wir uns das Buch dieses Titels vornahmen, ist uns kein einziges Mal die Vergegenwärtigung eines richtigen Spaziergangs unter die Augen gekommen! Muß da nicht der Verdacht geäußert werden, daß dieser Kontemplationist und Ich-Sager nicht einmal aktiv gewandert ist, sondern bloß so mit den Augen, und mit der Hand über bloßes Papier?

Jetzt aber im Ernst: Philippe Jaccottet hat es, anders als die meisten von uns, durch seine allerzarteste Aktivität, jene des Formgebens - Ruck der Begeisterung von der Sache und langausdauerndes Maßnehmenerreicht, daß die von ihm geschaffenen Dinge von der Person des Poeten, des Machers, kein Bild, nicht einmal einen Umriß oder einen Schatten geben. Vollkommen übergegangen in Sprache, ist er der unsichtbare Dritte und lehrt, ohne es zu wollen, den Lesenden anhand der Probleme, von denen er so vollkommen spricht, und der Fragen, die er so durchlässig stellt, was der Künstler oder, warum nicht, Dichter in seiner Arbeit ist: der gesetzmäßige Mensch, ohne Stimmungen und ohne Launen.

An einem Vergleich mit jenem anderen, der immer wieder zu Jaccottets Vorfahren gezählt wird, sei das kurz verdeutlicht: Senancour und dessen »Oberman«. Ich denke, daß die scheinbaren Gemeinsamkeiten geradezu Gegensätze sind. Jenes Ich namens Oberman ist ein empfindsamer Einzelner, der Sprecher bei Jaccottet aber ein empfindlicher Allgemeiner, und ich bestehe auf dem Unterschied zwischen Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, mag das auf den ersten Blick auch spitzfindig wirken. Oberman überläßt sich seinen Launen und wird dadurch zum Typus, abhängig von den jeweiligen Landschaften, den Jahreszeiten und besonders dem Licht- in einer unteren Spielart: dem Wetter; und sein Autor gibt diesen zahllosen Stimmungssprüngen seines zweiten Ich unter einem jetzt wolkenlosen, jetzt bewölkten Himmel jedesmal fast eifrig nach. Auch bei Jaccottet meldet sich immer wieder dieses zweite, lichtabhängige Ich, zum Beispiel in den folgenden Zeilen der »Gedanken unter den Wolken«: »Es ist wahr, all diese Tage hat man kaum die Sonne gesehen, / unter so viele Wolken zu hoffen, ist weniger leicht...« Dann jedoch, anders als Oberman, erkennt er seine Abhängigkeit, und die Tätigkeit des Gedichtes wird es, sich davon loszusagen; der Laune abzuschwören: »Wie wenig Kraft müssen wir haben / daß wir aufgeben, nur weil die Sonne fehlt... / Wie kindisch müssen wir geblieben sein / uns vom Blau des Himmels gerettet zu glauben/ und bestraft von dem Gewitter oder der Nacht.« Es gibt geradezu eine Regel der drei Schritte in den Poemen Jaccottets, vor allem den späteren: Lobpreis des sichtbaren, äußeren Lichts; Einverständnis mit Nacht und Finsternis; Anruf des unsichtbaren Lichts: »Das Wasser, das man nicht trinken wird, das Licht / das diese zu schwachen Augen nicht werden sehen können, /ich habe den Gedanken daran noch nicht verloren...« Ebenso wird man, anders als bei Oberman, von dem Sprecher Jaccottets nie auch nur einen Ansatz des Jammerns, des Sich-Beschwerens, Sich-Beklagens finden; mag es um das Altern gehen oder um einen geliebten sterbenden Menschen: die Stimme, die spricht, bleibt sozusagen ohne jeden Tonfall, ohne Schwankung, ist die der Klage selbst, de profundis, wie etwa zu jenem alten Sterbenden: »In dem / wieder zu groß gewordenen Bett, / Kind ohne die Zuflucht zu den Tränen.« Man könnte demnach den bei Philippe Jaccottet am Ende immer das Wort Behaltenden, den Akteur, den an der Sprache Tätigen, anders als Senancours zweites Ich Oberman, das »Dritte Ich« nennen - eben der Künstler als der gesetzmäßige, von Launen freigedachte allgemeine Mensch.

Aber es sind doch aus den Texten zwei Rückschlüsse möglich (und hier nötig) – nicht auf die Besonderheiten des Individuums, sondern des Künstlers Philippe Jaccottet: der eine kommt aus der Geographie, der andre aus der Historie (der Künste), und recht bedacht, gehören beide zusammen. Jaccottet ist Schweizer, geboren im Kanton Waadt, aufgewachsen in Lausanne am Genfer See - von daher vielleicht die Vergleiche mit Senancour? Jedenfalls hat seine Poesie gemeinsame Wesenszüge mit einigen großen Schweizer Autoren dieses Jahrhunderts. So viel mir bei dem, was mir als seine wunderbare Zagheit« erschienen ist (besser wäre wohl das Wort »Zögern«), immer wieder die, freilich mit grundanderer Gebärde auftretende, Bedächtigkeit Ludwig Hohls ein und vor allem dessen Verwerfen des schreiberischen »Übermuts«. (Nur kein Übermut - der war für Hohl geradezu ein Dichtfrevel.) Keine einzige sozusagen übermütige Stelle ist auch bei Jaccottet zu finden, höchstens »ein nicht immer sicherer, doch von Begeisterung beflügelter Gang«, der, gemäß einer anderen Gedichtzeile, vielleicht um einen Schritt vorankommt, indem er, nach und nach, »den Schmerz vermischt mit dem Licht«, von dem wir aber, so in jener Klage um den Sterbenden, nicht erwarten sollen, daß er »das Licht vermählt mit diesem Eisen«. Wie verschieden ist solche Haltung doch zu der unseres alten Goethe, dessen »Westöstlicher Diwan« eine Gedichtzeile daraus fast zum Motto haben könnte: »Denn Dichten ist ein Übermut.« Freilich: auf die Frage dazu einmal das großartig-verschmitzte Abwinken und Lossprechen Ludwig Hohls von der Ubermutssünde (»der Weimarer hatte seine Bedingungen, und ich hatte eben die meinen«), und eine entsprechende Antwort stelle ich mir auch von Philippe Jaccottet vor, wenn auch wieder mit grundanderer Gebärde, vielleicht nur einem kleinen Blick oder einem leichten Lächeln: »Ist mein >Ich habe mich leicht erhalten, / damit die Barke weniger einsinkt nicht mein spezieller Übermut? « - Der andere Schweizer, der mir bei Jaccottet in den Sinn kommt: Robert Walser, nicht nur wegen der Leichtigkeit, sondern vor allem, Verzeihung für den Ausdruck, wegen eines vergleichbaren Spielverderbertums. So wie Walser die Schönheit, oder – ein Wort Jaccottets – »Schöngestaffeltheit«, der Landschaft oder überhaupt der Welt aufleben läßt, in seinem zweiten Schritt da aber den Teufel oder das Robert Walsersche »Teufelchen« hineinsetzt, so tut es Jaccottet, aufgewachsen, wie es einmal im »Spaziergang« heißt, unterm »katholischen Himmel«, in einer Art dichterischen Pflichtbewußtseins, mit Alter und Tod: sein zweiter Schritt nach dem Lobpreis des Lichts ist sehr oft das »memento mori«, etwa nach dem »Wie sollte ich hoffen, so viel Kraft je nach Gebühr zu begrüßen?« das »unvorstellbare Entsetzen des kleinen aschfahlen Mannes, dem der Schmerz mit jeder Sekunde einen Tropfen seines Blutes entzog«. Unvollständig aber bliebe das Werk beider Dichter ohne den folgenden dritten Schritt hinaus ins Offene, welches für mich am reinsten oder rein zeichenhaft, sich einmal bei Jaccottet durch bloße Grammatik, in einem wunderbaren Futurum exactum ausprägt: »Trotzdem werden wir im Vorbeigehen noch gehört haben / jene Rufe der Vögel unter den Wolken.«

Und die historische Besonderheit des Künstlers Jaccottet? Sie zeigt sich klar in einem ständigen Zurücknehmen der Begeisterungen, von dem »Natürlich kommt dem keinerlei Wahrheit zu« über das »Wort in die Luft gesprochen« bis zu dem letzten Satz der »Promenade«: »Nur die klägliche Sorge um Leib und Leben hindert mich, ein wahrer Dichter zu sein.« Dazu tritt, ebenso ständig, das noch größere Problem: die Frage eines, der sich als Angehörigen und Abhängigen dieser Epoche sieht, nach seinem Recht überhaupt zur dichterischen Arbeit: »Ich müßte also entscheiden, ob ich wirklich ein Recht hatte... von einer fast zum Motto haben könnte: »Denn Dichten ist ein Übermut.« Freilich: auf die Frage dazu einmal das großartig-verschmitzte Abwinken und Lossprechen Ludwig Hohls von der Ubermutssünde (»der Weimarer hatte seine Bedingungen, und ich hatte eben die meinen«), und eine entsprechende Antwort stelle ich mir auch von Philippe Jaccottet vor, wenn auch wieder mit grundanderer Gebärde, vielleicht nur einem kleinen Blick oder einem leichten Lächeln: »Ist mein >Ich habe mich leicht erhalten, / damit die Barke weniger einsinkt nicht mein spezieller Übermut?« - Der andere Schweizer, der mir bei Jaccottet in den Sinn kommt: Robert Walser, nicht nur wegen der Leichtigkeit, sondern vor allem, Verzeihung für den Ausdruck, wegen eines vergleichbaren Spielverderbertums. So wie Walser die Schönheit, oder – ein Wort Jaccottets – »Schöngestaffeltheit«, der Landschaft oder überhaupt der Welt aufleben läßt, in seinem zweiten Schritt da aber den Teufel oder das Robert Walsersche »Teufelchen« hineinsetzt, so tut es Jaccottet, aufgewachsen, wie es einmal im »Spaziergang« heißt, unterm »katholischen Himmel«, in einer Art dichterischen Pflichtbewußtseins, mit Alter und Tod: sein zweiter Schritt nach dem Lobpreis des Lichts ist sehr oft das »memento mori«, etwa nach dem »Wie sollte ich hoffen, so viel Kraft je nach Gebühr zu begrüßen? « das »unvorstellbare Entsetzen des kleinen aschfahlen Mannes, dem der Schmerz mit jeder Sekunde einen Tropfen seines Blutes entzog«. Unvollständig aber bliebe das Werk beider Dichter ohne den folgenden dritten Schritt hinaus ins Offene, welches für mich am reinsten oder rein zeichenhaft, sich einmal bei Jaccottet durch bloße Grammatik, in einem wunderbaren Futurum exactum ausprägt: »Trotzdem werden wir im Vorbeigehen noch gehört haben / jene Rufe der Vögel unter den Wolken.«

Und die historische Besonderheit des Künstlers Jaccottet? Sie zeigt sich klar in einem ständigen Zurücknehmen der Begeisterungen, von dem »Natürlich kommt dem keinerlei Wahrheit zu« über das »Wort in die Luft gesprochen« bis zu dem letzten Satz der »Promenade«: »Nur die klägliche Sorge um Leib und Leben hindert mich, ein wahrer Dichter zu sein.« Dazu tritt, ebenso ständig, das noch größere Problem: die Frage eines, der sich als Angehörigen und Abhängigen dieser Epoche sieht, nach seinem Recht überhaupt zur dichterischen Arbeit: »Ich müßte also entscheiden, ob ich wirklich ein Recht hatte... von einer Mondnacht zu reden«, oder es spricht »der Andere«: »Ich frage mich manchmal, ob es recht ist, die Bäume so zu lieben, wie du es tust, und ob du dabei nicht auf Abwege gerätst.« – Hier sei von Rilkes, des ein halbes Jahrhundert vor Jaccottet Geborenen, ohnehin schon schwankendem und darum so inständig oder trotzig verfochtenem Dichtertum eher abgesehen; als Beispielfigur für einen historischen Wandel drängt sich mehr noch Francis Ponge auf, der um ein Vierteljahrhundert ältere, zweifellose Lehrmeister – zumindest was den ersten Teil des »Spaziergangs unter den Bäumen« betrifft.

Beiden, Ponge und Jaccottet, gemeinsam ist jeweils der Ausgangspunkt: das Ergriffensein von einem Gegenstand. Wo aber Ponge diesen dann mit Ausdrücken bestürmt und mit Varianten umspielt, geht Jaccottet, um seiner Sache gerecht zu werden, methodisch, langsam und vor allem gleichmäßig auf Abstand, setzt alles daran, durchlässig zu bleiben und, wie es einmal steht, »dem äußeren Licht keinen Widerstand zu leisten«. (Wohlgemerkt, die Unterschiede beider Schreibhaltungen in der historischen Zeit sind gewaltig, aber sie trennen nicht, im Gegenteil.) Das Ergebnis bei Ponger in der Regel am Ende ein kindlich-stolzes, anmutig-ironisches Auftreten, bei dem die Stimme des Dichters sich in ein Instrument verwandelt hat, in meiner Vorstellung eine (kleine) Trompete, die hin und wieder in Trauer gestopft wirkt, aber öfter noch schmettert; Jaccottet aber ist, nach einen Spruch von Borges, »entschieden eintönig« geblieben: seine Stimme beginnt und endet als die zittrige, fragende Menschenstimme der Psalmen, »mild, übergänglich« (G.), und Ponge würde, wieder in meiner Vorstellung, für den Autor solcher Durchlaß-Formen spielerisch die Wörter »paysagiste« und »passagiste« zu einem einzigen zusammenziehen wollen; einmal gut, daß, was mich immer verwundert hat, es im Französischen kein Verb für unser »schweigen« gibt: mit der Umschreibung »faire silence« sagt Jaccottet an einer Stelle selber, was seine Position in seiner Zeit ist.

(Nebenbei: die Forderung, das Auftreten, die Rolle, die wortsichere, bedächtige Frechheit oder Aufsässigkeit, die instrumentierte Rechtssuche, ob mit Posaune oder Mundharmonika – sie leben hoch! Bei Uwe Kolbe etwa, dreißig Jahre nach Jaccottet geboren, wird, und sei es auch von den Rändern her, wohin in der Jetztzeit der Ort des Dichters vollends gerückt scheint, wieder poetisch aufgetreten und aufgespielt.)

Der Künstler als der gesetzmäßige Mensch, in dem Sinn, wie es im »Spaziergang« heißt: »Das Wunderbare jedenfalls ist, daß die Arbeit des Dichters ... denselben Gesetzen zu gehorchen scheint wie unsere Lebensführung.« Aber, zuletzt: Ist er nicht auch, wo seine Sprache dem Ding entspricht, gesetzgeberisch (natürlich immer ohne Absicht, ohne Imperative, ohne Sollensformen)? So wurde, der das fragt, etwa vom Leser der Zeile »In mir sind versammelt die Wege der Durchsichtigkeit« angerufen, von dem Buch aufzublicken und in dem hohen Gras eines Maigartens nach solchen Wegen Ausschau zu halten... »Dieses Heute wird nur Reines sagen.«

Der junge John Keats hat die Wirkung der Poesie in einem Brief lapidar so benannt: »Das menschliche Leben und seine (verfeinerte) Wiederholung im Geist«, oder heute gesagt, Jaccottet variiert die schön gestaffelte Welt in durchlässig gefügter Sprache noch einmal, und noch einmal... Solch ein wunderbares »Noch einmal« oder »Schon einmal« des Erlebnisses wäre auch die folgende Entsprechung (nicht Übersetzung) des »Spaziergangs unter den Bäumen«: Sie steht ganz am Anfang, geradezu als Stichwort, eines zweitausendjährigen Gedichts, das zwar nicht mit Altern und Tod, aber mit Heimatlosigkeit, dem Vertriebensein an die Ränder, anhebt, Vergils erster Ekloge: LENTUS IN UMBRA steht da als Entsprechung für »La promenade sous les arbres« – »langsam im Schatten«; wird, wer dieser Inschrift nachgeht, nicht noch einmal so langsam im Schatten?

So also zeigt sich unsereinem Philippe Jaccottets gesetzmäßiges Schreibleben: Von der Abwehr derjenigen Bilder, »die... dem (bewußten oder unbewußten) Verlangen entspringen, dem ersten Glied des Vergleichs sich zu entziehen, es zu verbergen oder es zu verfremden«, über jene anderen Bilder, deren »Gegenteil«, hin zu der Sehnsucht, überhaupt ohne jedes Bild »einfach die Tür aufzustoßen«, mit den Gegenständen schlicht mitzusprechen, zurück zum Geltenlassen jener Gegenteil-Bilder; dem: »Fähren oder Engel des Seins, / setzen sie den Raum neu instand.« Zumindest eins solcher Bilder des unbekannten Menschen Jaccottet kam mir beim Lesen seiner Bücher in den Sinn, ohne daß es durch den Text selbst irgendwie vorstellbar würde: der noch junge Dichter tastet sich da mit einem seiner Lehrer, oder vielleicht mit dem älteren Dichter Gustave Roud, durch den dunklen Vorraum der jahrtausendalten Klosterkirche von Romainmôtier nördlich von Lausanne vor in das gerade ein wenig lichtere Hauptschiff, was aber genügen wird für seine Art von hellem Entschlossensein.

Und dazugesagt gehört noch, daß all das ein ziemlich lyrischer Prosaist von einem eher prosaischen Lyriker zusammenphantasiert hat, ein wieder gewaltiger, aber hoffentlich nicht trennender Unterschied. (So hat sich der erstere zu den Phänomenen der schöngestaffelten Welt einmal mozartisch vorgenommen: »Nimm alles ganz ernst und halt dich bei nichts auf«, und so endet eins der späten Gedichte des letzteren, in der Übertragung seines » Sichtbarkeitsdiener«-Gefährten Friedhelm Kemp: »Ich gehe, ich staune, und mehr zu sagen ist mir verwehrt.«)

Und jetzt laßt uns alle hier von unserer »ewigen Unruhe« für eine Zeitlang – wie das ja der Hauptsinn dieses Preises ist – ausruhen, auf der Klippe von Duino, der zwar gewiß nicht beständig sonnigen, durch den Geist, der einst am Werk war, jedoch gewiß beständig ein wenig lichteren. »Commune dolor« war Petrarcas feinere Wiederholung für den Karfreitag - in den paar kurzen Zwischenzeiten aber: commune laetitia, oder jeder frei nach des Petrarca-Preisträgers wunderbar zaghaftem Nocheinmal: »Für eine Zeitlang noch ist man im Kokon des Lichts.«