focus.de: Wahre Empfindung

Das Gewicht der Welt schultern. Peter Handke feiert am 6. Dezember seinen 60. Geburtstag

Dass er diese Woche sein sechstes Jahrzehnt abschließt, will man kaum glauben. Erscheint er doch jedem, der sich mit ihm ernsthaft befasst, wie ein junger Mensch, der stets neu anfängt und mit jedem Text nach neuem Schwung sucht.

Peter Handke lebt nicht aus dem Glauben an literarische – alte oder modische – Traditionen. Seine ganze Anstrengung gilt dem Sich-Öffnen der Realität, so wie sie in seinen unmittelbaren Wahrnehmungen gegenwärtig wird.

Ob es Dinge des Alltags sind (ein Bleistift), Begebenheiten während eines Spaziergangs in den Wäldern um Paris (etwa der Gesang eines Pirols) oder ein Film wie „Pulp Fiction“, immer bemüht er sich, so viel von der unmittelbaren Gegenwart des erlebten Moments in die Sprache einzufangen, wie es ihm möglich ist.

Handkes Schreiben will nie Routine sein. Sein Schreibstil sucht dem Rhythmus der Wahrnehmung und des Erlebens so nahe zu kommen, wie es nur irgend geht.

Diese Haltung macht es vielen Lesern so schwer, ihm zu folgen. Wer sprachlichen Konventionen folgt, die in der Schule und noch viel mehr in Medien eingeübt werden, hat es schwer, seinen Sprachspielen Verständnis entgegenzubringen. Auf die üblichen Formen der Erzählung, die einen Stoff ausbreiten, verarbeiten und zu einem Fazit bündeln, also das gewohnte Geschäft der Schriftsteller, darauf kommt es ihm nicht an. Für sich selbst wie für den Leser will er den primären Zugang zur Welt zurückerkämpfen – ein schwermütiges Unternehmen, das meist wegen der Übermacht sekundärer Überzeugungen, Vorstellungen und Sprach-formen misslingt.

Gelingt jedoch der Versuch, einer frischen Wahrnehmung keine abgegriffenen Worte zu geben, dann istdas Glück – für einen kurzen Moment – grenzenlos. Alle Bücher Handkes seit Ende der 70er-Jahre kreisen um solche Momente der „wahren Empfindung“.

Seine vor kurzem erschienene Textsammlung „Mündliches und Schriftliches – Zu Büchern, Bildern und Filmen“ gibt einen Einblick in seine Arbeits- und Lebensweise. Einerseits lesen sich die dort versammelten Aufsätze, Reden und Notate wie Beschwörungen, wie Rückrufe zu den primären, ursprünglichen Bildern, die den heutigen Menschen verloren gegangen sind. Andererseits – und das wirkt tröstlich – begegnet man einer Galerie von Künstlern, die jeder auf seine Weise Handkes Ringen um ein unverstelltes Leben in der Welt teilen. Es geht ihm um das Abräumen sekundärer und tertiärer Sprachsymbole, Vorstellungen und Dogmen und die Hinwendung zu Wahrnehmungen und Erfahrungen, die die „Sinne“ öffnen, die Sinn machen.

Was Handke zu den Malern Emil Schumacher und Anselm Kiefer schreibt, was er über die Autoren Hermann Lenz, Arnold Stadler oder Ralf Rothmann sagt, gehört zum Besten, was eine praktische Ästhetik leisten kann: das Erschließen anderer Künstler durch Teilnahme am gemeinsamen Spiel, das „Gewicht der Welt“ zu schultern, ihm eine Kunstform zu geben. Der leidenschaftliche Kinogänger bezieht dabei immer auch die Regisseure ein – von Michelangelo Antonioni bis Quentin Tarantino.

Auffallend bleibt, wie Handke, der sonst schroff und abweisend dem Literaturbetrieb gegenübersteht, geradezu liebevoll mit anderen Schrift-stellern umzugehen vermag. Es gibt wohl keinen Autor von Rang im deutschsprachigen Raum, der sich so uneigensüchtig für andere Kollegen eingesetzt hat wie er.

Der vom Münchner Verleger Hubert Burda gestiftete Petrarca-Preis bot ihm als Juror die Gelegenheit, Schriftstellern wie Hermann Lenz, Ludwig Hohl, Gerhard Meier oder Jan Skacel zur ihnen zustehenden Beachtung zu verhelfen. Auch bei Jüngeren wie Arnold Stadler, Ralf Rothmann oder Erich Wolfgang Skwara spart er nicht mit Ermunterung.

Wer mehr über Peter Handke wissen will, sollte sich in die Biografie von Georg Pichler, „Die Beschreibung des Glücks“, vertiefen. Dort erfährt er, wie das Kärntner Wunderkind die Literaturszenen der 60er-Jahre aufrollte, alle möglichen Landschaften der Welt durchstreifte und schließlich eine selbstständige poetische Existenz aufbaute – trotz immenser Belesenheit keinen literarischen Vorbildern oder Moden nachlaufend.

Seine Familie, seine Frauen, seine Wohnorte – vieles, was dem Dichter selbst keine Erwähnung wert ist, wird hier ausgebreitet.

Noch aktueller präsentiert sich jedoch der Fernsehfilm von Peter Hamm, „Der schwermütige Spieler“. Er wird gesendet vom europäischen Kulturkanal arte am 6. Dezember, 23.10 Uhr, und vom SWR am 12. Dezember, 22.30 Uhr, wiederholt. Hamm schuf ein eindringliches Porträt über Person, Werk und Leben des Dichters. Handke, gern in Paradoxien und Widersprüchen formulierend und zwischen evangeliengleichem Sanftmut und plötzlicher nietzscheanischer Wut und Verdammungslust changierend, erzählt von sich, von der Not und dem Glück beimSchreiben, über die Länder, die er liebt: Frankreich, Jugoslawien, Spanien.

Seine Empathie für Serbien, sein Hass auf den Westen als fehlgehende Moderne – die unversöhnlichen Kritiker werden es ihm nicht nachsehen. Doch dieser Film zeigt – deutlicher als alle Debatten in deutschen Feuilletons der letzten Jahre -, dass es Peter Handke nicht um politische Weltanschauungen geht, sondern um die tägliche Mühe, eine eigene erprobte, genaue Wahrnehmung der Welt zu erschreiben. Erfahrung ist erst vollzogen, wenn sie die ihr gemäße Sprache gefunden hat.

Eine Biografie und neue Handke-Texte

Georg Pichlerüber Handke (Ueberreuter, 208 Seiten, 19,90 Euro)

Zu Büchern,Bildern und Filmen (Suhrkamp, 166 S., 19,90 Euro)

Dichter Handke

provokant, polarisierend, begeisternd

Geboren 1942

in Griffen/Kärnten, 1965 Abbruch des Jurastudiums, seither freier Schriftsteller, lebt in Paris

Werke

Zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen, Romane, u.a. „Das Jahr in der Niemandsbucht“